Vor der Durchsicht der Feldpost unseres Zeitzeugen Hermann Ginzel [3]- aufschlussreiche Briefe, die die körperlichen und seelischen Veränderungen eines Offiziers an der Ostfront dokumentieren -, befragten wir ihn 1996 nach seinen heutigen Erinnerungen und Gedanken an diese Kriegszeit. - Den Anknüpfungspunkt bildeten aber auch hier Briefe, nämlich Gefallenenmitteilungen, die er als Kompaniechef an die Angehörigen der getöteten Soldaten zu schreiben hatte.
Die Kriegsereignisse waren doch existentiell für Sie?
H.G.: Jeder Krieg verroht den Menschen. Den steht man seelisch nur durch, wenn man alle Mitleidsgefühle zurückdrängt - oder man dreht durch. Ich habe beides erlebt. Ich habe das auch z.B. bei einem Offizier erlebt: Er meldet sich bei mir - ich war Bataillonsführer - mit einem Pionierzug und soll vorne vor den Stellungen - wir lagen in Schützengräben - Drahtverhaue machen und Minen legen und so etwas. Der kommt dann nach einer halben Stunde wieder: "Stalinorgel, Stalinorgel, Stalinorgel…!" [4] Ich sagte: "Was ist los? Wo haben Sie ihren Zug?" "Weiß ich nicht" - Da hat er seinen Zug weiter vorne arbeiten lassen und ist völlig erledigt, mit Nervenzusammenbruch… Der Feldwebel, der mit war, hat den Zug weitergeführt. Natürlich liegt man bei einer Garbe von Stalinorgeln…, das sind - glaube ich - 36 Schuss gewesen, wenn man da im Graben drin liegt, dann liegt man eigentlich auch meistens sicher, weil die sehr flach detonieren.
Was uns seelisch am meisten beeindruckt hat, was weh getan hat, ist, dass ich 52 Briefe hab schreiben müssen an die Angehörigen der Gefallenen. Das hat mir am meisten weh getan. Und dann muss man sich verhärten gegenüber dem Leid, das man unter der russischen Bevölkerung sieht. Da sagt man sich dann: "C'est la guerre, so ist das nun mal im Krieg, kann ich nicht ändern." Man kann nicht mitleidig sein über jede, die russische Zivilbevölkerung, es gibt Menschen, die das gekonnt hatten. Der Arzt (und evangelische Pfarrer Dr. Kurt Reuber aus Eschwege), der die "Madonna von Stalingrad" gemalt hat[5], der hat sich wirklich als Gebietsarzt für die Russen interessiert und hat denen geholfen. Und das mache ich mir heute zum Vorwurf. Diese Seiten habe ich nicht gesehen.
Das zweite war, neben den 52 Briefen an die Angehörigen, dass, als ich dann in Rostow am Don im Lazarett lag, mir klarmachte: Die 80, die siehst du nie wieder. Und das waren ja alle Menschen, mit denen ich ein halbes Jahr zusammengewesen war, die ich alle kannte, deren Eigenarten ich kannte, und die jetzt noch auftauchen vor mir, vor meinen Augen. Das hat mich bewegt und das hat das andere Leid der Russen zurückgedrängt, ich kann nicht mit 100.000 Mitleid haben. Das wird uns heute als Soldat zum Vorwurf gemacht.
Schrieb man den Angehörigen der Gefallenen die Wahrheit?
H.G.: Es ging ja nicht um Heldentod, als ich die (Briefe) geschrieben habe. Die (Angehörigen) wollten ja schon genauer wissen, wie er umgekommen ist. Und da habe ich natürlich manchmal nicht die Wahrheit gesagt, dass einer einen Bauchschuss hatte und sich da drei Stunden lang vor unserem Graben gequält hat, und wir ihm nicht helfen konnten. Warum sollte ich das den Eltern schreiben? Dann habe ich ihn durch einen Kopfschuss schnell sterben lassen. Die wollten natürlich genau wissen, wie wir ihn begraben haben und ob wir ein Kreuz drauf gemacht haben und solche Dinge.
Auf diese Briefe an die Angehörigen habe ich auch sehr viele Antworten gekriegt.
Es gab ein Elternpaar, das uns immer Zeitungen schickte für einen Soldaten der Kompanie. Da lag ein Zettel drin: wir sollten schreiben von ihrem Sohn. Einmal haben wir einen Gefallenen nicht bergen können, der lag 200 Meter vor der russischen Linie - wir hatten (zuvor) einen Angriff gemacht, der gescheitert war. Wir mussten uns bei Dunkelheit zurückziehen, und der musste liegen bleiben. Wir haben nachts noch einen Trupp losgeschickt, um die Leiche zu bergen, dachten aber, wir bringen uns in Lebensgefahr und sind (unverrichteter Dinge) zurückgekommen. Am nächsten Morgen erscheint einer und sagt: "Hier ist seine Uhr, sein Portemonnaie und alle Andenken." Wir sagten: "Wo kommen die denn her?" - "Die hat er mir vorher gegeben." "Ja, aber Sie sind doch genauso am Maschinengewehr gewesen wie er, Sie lagen doch auf Tuchfühlung nebeneinander?" "Ja", hatte der ihm gesagt, "ich habe so ein komisches Gefühl, nimm Du die man..." - Und da habe ich den Angehörigen die Andenken ihres Sohnes schicken können.
Ich habe auch Briefe von Angehörigen gekriegt, wo sie schrieben: "Wo ist dessen Uhr geblieben?", wenn wir ihn nicht haben retten können.
Wurde Ihre Einheit personell aufgefüllt?
H.G.: Die wurde immer kleiner, es kamen keine neuen. Und in den Kessel wurden keine neuen reingeschickt, da wurden dann die hinteren Trosse aufgelöst, die Bäckereikompanie, die Schlachtereikompanie usw. Unsere Trosse, die die Pferde versorgt hatten, sowie die Fahrer, kamen nach vorne. Mit denen mussten wir dann erstmal Handgranatenwerfen üben, die hatten noch nie im Leben eine Handgranate geworfen. Das konnte man im Graben dann ja schön üben. Und dann kriegten wir 300 Rumänen ins Bataillon rein. Bei den Rumänen waren die Russen durchgebrochen, und sie waren nach Westen geflohen; von Westen kam der Russe auch und dann sind die nach Osten gelaufen. Da kriegten wir plötzlich 300 Rumänen. Und ich muss sagen, wir haben die damals nicht sehr anständig behandelt. Ich weiß aus dem Film "Hunde, wollt ihr ewig leben", der die Zusammenarbeit mit den Rumänen schildert, und vom Verfasser des Buches, einem Wiener, den ich kenne (Verbindungsoffizier bei der Rumänischen Armee), dass die Rumänen immer wieder um panzerbrechende Waffen gebeten haben und um schwere Artillerie, um dem Durchbruch stand zu halten. Und unsere Armee hat nichts hergegeben. Bloß als der Durchbruch erfolgt war, da war auch einmal hinten bei uns die Flak leer, die schwere Artillerie war weg, und es wurde dann versucht, die Lücke zu schließen.
Also, mit den Rumänen sind wir dann auch sehr schlecht umgegangen. Zunächst mal, ich war damals noch Oberleutnant, und mir wurde ein rumänischer Hauptmann unterstellt (also ein höherrangiger Offizier). Wir hatten einen Siebenbürger als Dolmetscher, den er mitgebracht hatte, der gut deutsch sprach, der Deutscher war. Der lud mich gleich ein. Wir hatten an Verpflegung - zu Anfang, nachdem wir eingekesselt waren - noch 200 Gramm Brot täglich; nicht viel, und kriegten jeden Tag einmal Suppe, wo auch Pferde drin waren. Wir standen uns ja besser als die Panzereinheiten, die konnten ihre Panzer ja nicht schlachten. Aber wenn unsere Pferde umfielen, die konnten ja nicht mehr, war immer ein Schlachter da, der die in die Suppe rein verarbeitete. Na ja, wir hatten wirklich Hunger. Ich bin mit 95 Pfund ins Lazarett gekommen.
Die Konflikte mit den Rumänen waren nun die: Wir hatten dem (rumänischen) Hauptmann und einem Oberleutnant dann einen schönen Bunker angewiesen, und ich bin gleich zu dem eingeladen, dann fing er an, Brot für mich abzuschneiden, Butter dick aufzuschmieren. Mir gingen die Augen über. Ich habe das auch angenommen, muss ich gestehen. Dann allmählich kamen die Krankenmeldung von der rumänischen Truppe: "Wegen völliger Entkräftung umgefallen!" Und dann habe ich deren Suppe kontrolliert, da war nichts drin, obwohl die genausoviele Pferde hatten wie wir, da war
nichts drin. Dann habe ich gesagt: "Die Feldküchen werden zusammengelegt." Dann mussten auch die Offiziere - genau wie wir - dieselbe Verpflegung essen. Dann bin ich oft mit dem Hauptmann Bocokan zusammen durch die Stellungen gegangen. Der hatte eine (Hunde)peitsche am Koppel, und wenn ihm etwas nicht passte, nahm der dem Mann den Stahlhelm ab und haute ihm den ins Gesicht, dass das Blut aus der Nase spritzte. In schlimmeren Fällen nahm er die (Hunde)peitsche und zog ihm die durchs Gesicht. Das konnte ich nicht mitangucken, ich habe gesagt: "Das geht nicht!" Die Fürsorge für die Truppe war minimal. Wenn die keine Schuhbänder hatten - wir hatten überall Leitungen, Telefonleitungen liegen -, dann schnitten die die Telefonleitungen kaputt und schoben sich die als Schuhbänder durch. Wir haben dann damals geglaubt, es sei Sabotage. Es war keine Sabotage, die brauchten Schuhbänder. Hätte ich vielleicht genauso gemacht. Heute frage ich mich natürlich, für wen sind die überhaupt nach Stalingrad gezogen, was wollten die da? Damals hatte ich diese Einstellung noch nicht.
Natürlich gab es Feuerpausen. Es gab Tage, wo der Russe von morgens bis abends immer wieder trommelte und versuchte, mal da, mal da, im Bataillon stärker anzugreifen, um zu sehen, wo die weichen Stellen waren. Und es gab Tage, wo nur 100, 200 Artillerieschuss fielen, das war wenig. Die Schwierigkeit für unsere Soldaten war die, dass wir die Rumänen zu ihnen in ihre Bunker gelegt haben, vorher waren dort 3 deutsche Soldaten, und dann waren da 3 deutsche und 3 rumänische Soldaten, die sich beim Postenstehen ablösten, und die Probleme waren ja noch viel größer, wenn die da hautnah zusammenlebten. Die einen verlaust, die anderen noch nicht - wobei ich nicht weiß, wer mehr Läuse hatte….
Die Bunker hatten Sie gebaut?
H.G.: Die haben wir selber gebaut, wir haben erst auf dem freien Feld gelegen; da haben wir uns Löcher gebaut, Erdlöcher, das war im September, Oktober (1942). Da haben wir unter der Zeltbahn in Erdlöchern gelegen. Dann haben wir die Löcher tiefer gebaut, und dann haben wir bei unserem Tross, der lag 8 Kilometer zurück, eine Zimmerei aufgebaut, wo die Bunker fertig zugeschnitten wurden. Wo die das Holz her kriegten, weiß ich nicht, da sind die Häuser gewesen, die Häuser waren allesamt Holzhäuser, die abgerissen wurden, als die Bevölkerung verschwunden war, geflohen oder evakuiert war, ich weiß es nicht, da habe ich mich auch nicht drum gekümmert, wo der Spieß das herkriegte. Wir haben alle etwas vom Zimmern etwas verstanden, und jeden Abend, wenn es dunkel war, kamen unsere Panjefahrzeuge und brachten Holz für ein oder zwei Bunker. Die waren schon fertig ausgehoben, das war alles standardisiert, und auf der einen Seite waren 3 Holzbretter übereinander, und da war etwas tischähnliches und da hockte man auf dem Boden.
Bekamen Sie noch andere Nachrichten neben dem Tagesbefehl?
H.G.: Gar nichts. Das war oberstes Gesetz, dass jeder nur soviel erfahren durfte, wie für die Beurteilung seiner eigenen Lage notwendig war. Und das erfuhr man, und sonst waren es nur Gerüchte. Die große Lage, das habe ich alles erst hinterher erfahren, nach dem Kriege zum größten Teil.
Jeden Tag kam da ein anderes Gerücht: Die Fahrzeuge werden schon zusammengezogen, die Lücke ist durchgebrochen, die LKW, die wir haben, werden zusammengezogen, die sollen morgen alle losfahren und Verpflegung holen usw. Immer wieder entstanden neue Gerüchte, und die wurden dann
auch geglaubt.
Wie schätzten Sie die Generalität ein?
H.G.: Mich hat das damals so schockiert, dass unsere gesamte Generalität in diesem Umfange versagt hat. Was mich am meisten enttäuscht hatte: Von uns hat man verlangt und Befehl gegeben "Keiner fällt in russische Gefangenschaft, halten bis zum letzten Mann, keiner darf sich ergeben!" und von den 22 Generalen sind 20 in russische Gefangenschaft gekommen. Nur unser General (Stempel) hat sich erschossen, ein anderer General hat - stehend freihändig - in die Russen reingeschossen, bis es ihn erwischt hat. Und 20 sind wohlgenährt mit allem Gepäck in russische Gefangenschaft gekommen. […]
Ich bin durch diese Erlebnisse zu einer Haltung gekommen, die sich dem Pazifismus nähert, weil ich meine, Krieg, sowas Entsetzliches, muss vermieden werden. Man muss alles tun, um einen Krieg zu vermeiden. Dazu gehört, dass ich gemerkt habe, wie der Krieg einen Menschen verroht, jeden Menschen verroht, sonst hält man das nicht durch. All die, mit denen ich jetzt engeren Kontakt bekommen habe, das mag Zufall sein, sind anschließend nach ihrer Entlassung aus der russischen Kriegsgefangenschaft zur Bundeswehr gegangen. Wahrscheinlich deshalb, weil sie ja sonst keinen Beruf hatten. Die sind als Abiturient 1939 in die deutsche Wehrmacht eingetreten, als Fahnenjunker und hatten keinen Beruf. Was blieb ihnen, als sie 1954 aus Russland wiederkamen, anderes übrig? Die verurteilen natürlich meinen Pazifismus…
Für den im Sozialdarwinismus gründenden Rassismus der Nationalsozialisten war das Leben ein steter "Kampf ums Dasein". Durch die Idee einer Förderung von erwünschtem und die "Ausmerzung" von unerwünschtem Erbgut übertrugen die Nationalsozialisten die im 19. Jahrhundert von Charles Darwin beschriebene Entwicklungstheorie der natürlichen Auslese in der Pflanzen- und Tierwelt auf die menschliche Gesellschaft. Mit der Annahme, im germanischen das stärkste und lebenswerteste Wesen bzw. Volk gefunden zu haben, rechtfertigte der Nationalsozialismus seinen systematisch betriebenen Rassismus und Imperialismus. Die von Hitler langfristig geplanten und von Deutschland angezettelten Kriege zwischen 1939 und 1945 galten der Umsetzung des nationalsozialistischen Rasse- und Lebensraumkonzeptes; der Holocaust stand im Mittelpunkt der Versklavungs- und Vernichtungspolitik in den unterworfenen Ländern. - "Krieg verroht den Menschen", musste Zeitzeuge Ginzel schmerzvoll erfahren. Aber der Zweite Weltkrieg ist auch - wie jene Kriege in Vietnam oder Ex-Jugoslawien - ein Beispiel dafür, wie der Mensch den Krieg verroht. In den "Rassenkriegen" der jüngeren Vergangenheit begingen Soldaten regelmäßig unbeschreibliche Greueltaten, folterten und massakrierten unbewaffnete Zivilisten und hilflose Gefangene. [6]Von blinder Wut, Wahnsinn oder Rachegelüsten getrieben brachen sich derartige Exzesse bei den durch Tod, Gewalt und Verlust abgestumpften, erbitterten und frustrierten Soldaten Bahn. - Nicht mit einer zunehmenden Brutalisierung in Kriegszeiten zu erklären sind hingegen jene Verhaltensweisen, die die Vernichtungsmaschinerie des Völkermordes im Zuge der sogenannten "Endlösung" am Laufen hielten. Hierbei handelte es sich nicht um spontane Zornes- oder Racheausbrüche verrohter Menschen, sondern um die systematische Umsetzung der NS-Regierungspolitik durch Angehörige der mobilen Einsatzgruppen der SS und der stationären Dienststellen der Sicherheitspolizei, der Einheiten der Polizei und der Wehrmacht, aber auch durch Institutionen wie der Baubehörde der Organisation Todt und der Forstverwaltung.[7]
Kaum pathologische Sadisten, sondern "ganz normale Männer" wurden mehr oder weniger aus gruppenspezifischen, kriegs- oder situationsbedingten Gründen zu Mördern - durch Befehle und aus blindem Gehorsam[8], aus Anpassung, durch politische Schulung und die Erziehung zum Mord, durch wachsende Routine und arbeitsteiliges Vorgehen, aus Rassismus und der "Entmenschlichung" des Anderen.
Eine Auseinandersetzung mit den Grenzen von Gehorsam und damit auch der Bindung an den Fahneneid auf die Person Hitlers hat im Verlauf des Zweiten Weltkriegs Wehrmachtssoldaten aller Dienstgrade beschäftigt und nicht wenige in einen Gewissenskonflikt gebracht[9]. Vor allem die Art der Kriegführung gegen die Sowjetunion ließ viele Soldaten über die Rechtmäßigkeit des Krieges und die Loyalität gegenüber der politischen und militärischen Führung kritisch nachdenken. Die formierte "Wehrgemeinschaft" des NS-Staates ließ dem Einzelnen jedoch kaum einen Handlungsspielraum: wer sich dem Kriegsdienst verweigerte oder von der Truppe desertierte, wurde mit Beginn des Krieges durch ein Kriegssonderstrafrecht mit der Todesstrafe bedroht. Die Wehrmachtsjustiz verhängte allein wegen "Fahnenflucht" 22.750 Todesurteile, von denen etwa 15.000 vollstreckt wurden. Die große Mehrheit des deutschen Millionenheeres blieb aber bis zuletzt aufgrund extremer Gehorsams- und Disziplinforderungen, einer gnadenlosen Abschreckungsjustiz und militärspezifischen Konformitätszwängen, sowie aufgrund des hohen gesellschaftlichen Prestiges, der Anziehungskraft "militärischer Tugenden" und des Glaubens an eine Vaterlandsverteidigung bei der Fahne - allerdings mit Einschränkungen, die jedoch nicht mit den Kategorien des Widerstandes zu erfassen sind, und daher bislang aus dem Blickwinkel der ohnehin vernachlässigten Alltagsgeschichte des Krieges herausfielen.[10]
Im Zuge der Dezentrierung geschichtswissenschaftlicher Perspektiven entwickelte sich in den neunziger Jahren auch eine entsprechende "Militärgeschichte von unten".[11] Sie unternimmt es, die gängige "Generalstabshistorie" zu egalisieren - ein gänzlich unmilitärisches Vorgehen, könnte man meinen, wird damit doch die Bedeutung der militärischen Befehlshierarchie missachtet, an deren unterstem Punkt - den Mannschaftsdienstgraden - lediglich Befehle empfangen und ausgeführt werden. Die absolute ,Herrschaft' des Befehls, die den Soldaten durch bestimmte Disziplinierungstechniken und Sanktionsmechanismen von der vermeintlichen Last der eigenen Entscheidung befreien und ihn zu einer willenlosen, feldgrauen "Verschiebemasse" formen sollte, stellte jedoch nur eine Idealvorstellung dar, so wie sie vielleicht noch bei der häufig als Schikane und als böswillige Quälerei empfundenen Rekrutenausbildung in der Kaserne umgesetzt werden konnte.[12]
Im Kriege, an der Front aber waren die militärischen Organisationsstrukturen, die Kommunikations- und Nachschubwege, die Befehlsketten sowie die aufgrund ihres Ranges angestrebten Vorbildfunktionen der Vorgesetzten vielfach durchbrochen. Die militärische Niederlage und den möglichen eigenen Tod vor Augen griffen "Defaitismus", "Wehrkraftzersetzung" und Kriegsmüdigkeit in der Truppe um sich. Diese Veränderungsprozesse, die den einzelnen unbekannten Soldaten wie auch die Wehrmacht in ihrer Gesamtheit prägten, wurden nicht nur von den militärischen Kommandobehörden oder der Militärjustiz registriert, sie schlugen sich auch in den privaten Aufzeichnungen der Mannschaftssoldaten, der Unteroffiziere und Offiziere nieder. Neben Kriegstagebüchern und Regimentschroniken transportiert die Feldpost die individuellen Umgangsweisen und Erfahrungen insbesondere des einfachen "Landsers" - dessen Briefe zahlenmäßig den größten Umfang ausmachten - im anonymen Kriegsverlauf. Bei der Feldpost handelt es sich im Gegensatz zu den Erinnerungsinterviews um Quellen, die unmittelbar dem Zeitpunkt des berichteten Geschehens angehören. Die Schreiber der Briefe kannten das Ende ihrer Geschichte nicht, so dass die Dokumentation des Soldatenalltags von Ungewissheiten und Sorgen über zukünftige Ereignisse durchzogen ist. Ihre Geschichte ist nicht Vorgeschichte einer gesicherten Existenz, sondern tägliche Überlebensarbeit. Ob es ein Morgen geben sollte, und wie dieses Morgen durch das Verhalten von gestern erklärt, legitimiert oder konterkariert werden kann, offenbart allein die - bewusst und unbewusst - ,frisierte' Erinnerung eines überlebenden Zeitzeugen. Erst ihm ist es möglich, aus den gewundenen Pfaden des Lebens den ,Königsweg' seiner eigenen Geschichte zu formen.
Im folgenden sollen einige Auszüge aus einer Fülle von Feldpostbriefen[13] des seit dem Kriege in Osterholz lebenden, mittlerweile pensionierten Lehrers Hermann Ginzel Kriegs- und Trennungserfahrungen aus der Sicht eines Zeitgenossen dokumentieren, der als einer der letzten dem "Kessel von Stalingrad" entrinnen konnte.[14] Der damals 27-jährige Briefschreiber war zu diesem Zeitpunkt Kompaniechef im Rang eines Oberleutnants. Durch seine Aufgabe und die Verantwortung für "seine" Truppe geben seine Briefe nicht nur einen Eindruck von ganz persönlichen Erlebnissen, sie reflektieren hingegen auch den konkreten Kriegsverlauf am jeweiligen Standort seiner Kompanie sowie die Verfassung der Mannschaften.
Ginzel wurde im November 1915 in Lehe geboren, einem hannoversch-preußischen Ort, der erst 1947 Bremerhaven und damit Bremen zugeschlagen wurde. In der Hansestadt besuchte der junge Hermann aber seit 1921 die Schule, die er 1933 mit dem Abitur abschloss. Zu diesem Zeitpunkt wollte er bereits ein Studium der Landwirtschaft aufnehmen. Sein Vater, ein Offizier der Schutzpolizei, befand sich unterdessen bereits ein Jahr im Ruhestand. Er, den der Sohn als einen ursprünglich "sehr konservativen" Menschen und dann als "begeisterten Nazi" charakterisiert, betätigte sich fortan in der hauptamtlichen Parteiarbeit für die NSDAP, auch im "Reichsarbeitsdienst", der allerdings kein angeschlossener Verband der Partei war.
H.G.: Ein Polizeihauptmann wird mit 49 pensioniert. Und der war dauernd am Reden: "Junge, wenn du in deinem Beruf etwas werden willst, musst du in die SS eintreten. Guck dir Walther Darré an" - der war unser Reichsbauernführer - "guck die Führer des Reichsnährstandes an, der Landesbauernschaften, alles in den oberen Rängen ist SS. Wenn du da also etwas werden willst, tritt in die SS ein!" [Aber] ich wollte nicht. Und ich wollte aber umgekehrt auch meinen Vater nicht enttäuschen und ihm sagen: Ich habe damit nicht viel am Hut, ich habe mich weitgehend innerlich gelöst. Das hätte ihn sehr getroffen.
Wo er selbst den Weg dorthin gerade hingefunden hat.
H.G.: Denn er war wirklich mit Begeisterung dabei. Und man will seinem Vater ja auch nicht weh tun.
Und dann kam mir folgendes zur Hilfe, als er mich einmal an seinem Schreibtisch holte, in sein Arbeitszimmer [und sagte]: "Ich muss dir etwas mitteilen." Holt er an seinem Schreibtisch etwas heraus, eine Geburts[urkunde], da musste doch jeder die "arische" Abstammung nachweisen. Und da hatte er von meiner Mutter überall an die Pfarrämter geschrieben und wollte gerne von Ahrend Mars die Heiratsurkunde haben. Da haben die mitgeteilt, der Ahrend Mars, der hieß früher Aron Moses, und der ist konvertiert: "Vormals der jüdischen Religion angehörig", stand in der Urkunde...
Wann war das?
H.G.: Das ist zur Zeit der napoleonischen Besetzung gewesen. Bei der SS wurde ja der "große Ahnennachweis" bis 1800 verlangt. Er [der Vater] hatte den Eindruck, dass das für ihn eine große Schande war, dass seine Frau nicht "rein" war. Jedenfalls hat er zu mir von da an kein Wort mehr gesagt, [dass] ich in die SS eintreten sollte - denn da wäre ich nie aufgenommen worden. Da bin ich sehr froh drüber gewesen, dass sich das so ergeben hat. Und ich bin dann in die Wehrmacht, hatte damit nichts [mehr] zu tun, [denn] da konnte man der Partei nicht angehören. Man war beurlaubt oder [anders, wenn man] der Partei angehörte, war man beurlaubt. Ich gehörte der Partei aber nicht an. Und von dem SA-Sturm, dem ich angehörte, hatte ich mich nicht abgemeldet. (Die suchen mich vielleicht heute noch.) Man war völlig in einem anderen Gebiet, wo man verhältnismäßig frei war.
Zuvor aber - zwischen 1933 und 1935 - absolvierte Hermann Ginzel eine landwirtschaftliche Lehre auf Gut Nutzhorn in Oldenburg. Nach dem Ablegen der Gehilfenprüfung trat er im April 1935 zum halbjährigen, zunächst noch freiwilligen Arbeitsdienst im Lager Werderhöhe (Bremen) an. Dies war die Voraussetzung für die Aufnahme eines Studienplatzes gewesen; da unterdessen jedoch die allgemeine Wehrpflicht wieder eingeführt worden war, schloss sich für Ginzel im Oktober 1935 der später auf zwei Jahre erweiterte Militärdienst nahtlos an. Diese Dienstzeit verbrachte Ginzel bei einem Infanterie-Regiment in Bückeburg, wo er die Ränge eines Gefreiten, Unteroffiziers und Feldwebels der Reserve erreichte. Nach einer freiwilligen Verpflichtung für ein drittes Dienstjahr, in dem er im Januar 1938 zum Leutnant der Reserve befördert wurde, trat der mittlerweile fast 23-jährige Ginzel sein Studium der Landwirtschaft an der Technischen Hochschule in München an. Seine Studentenzeit sollte jedoch bereits nach zwei Semestern auf unbestimmte Zeit unterbrochen werden, als man ihn Ende August 1939 zu einer "Übung" nach Herford einberief, zu einem Infanterie-Ersatz-Bataillon, das Rekruten für die aktiven Regimenter ausbildete. Ginzel wurde Zugführer in der M.G.-Kompanie, bevor das Bataillon nach Danzig verlegt wurde. Dort begann am 1. September 1939 mit dem Beschuss der Westerplatte, der Landzunge an der westlichen Mündung der Toten Weichsel der Zweite Weltkrieg. Wenige Wochen nach dem Ende des "Polenfeldzuges" verlobte sich Hermann Ginzel im November 1939 mit Hanna Loth aus Bayern. Seine militärische ,Laufbahn' führte ihn von Oktober 1940 bis Juni 1941 als Zugführer einer M.G.-Kompanie im Korps der deutschen Besatzungstruppe nach Frankreich. Er absolvierte einen Kompanieführerlehrgang und nahm nach dem Überfall der deutschen Wehrmacht auf die Sowjetunion (22. Juni 1941) als Kompaniechef am "Vormarsch nach Russland" teil. Nach einem Monat erlitt Ginzel südwestlich von Newel eine Verwundung, die ihm bis Mitte September 1941 mehrere Lazarettaufenthalte bescherte. Für das Wintersemester 1941/42, man glaubte in Deutschland noch an einen raschen militärischen Erfolg in der Sowjetunion, erhielt Ginzel ein Semester Studienurlaub für die TH München. Am Ende dieses Semesters, im März 1942 heiratete er seine Verlobte Hanna - die Empfängerin seiner Feldpostbriefe.
Die folgenden Ausschnitte aus dieser Feldpost schildern die Monate nach dem Studienurlaub, die im Juni und Juli 1942 mit der Bereitstellung und dem Transport seiner Kompanie von Belgien in die Ukraine begannen.
Auszug aus dem Brief an die Ehefrau Im Transportzug, 18.6.42
Zur "geistigen Betreuung" habe ich mir den Radioapparat der Kompanie auf mein Abteil [Transportführer] gestellt, aber ich stelle ihn nur zu den Nachrichten ein, die Batterie muss geschont werden. Was wir sonst machen? Schlafen, viel schlafen! Und damit wir auch müde werden, vertilgen wir in der Zwischenzeit unsere restlichen Kantinenbestände. Gelesen wird natürlich auch, ich habe mir 4 Bücher mitgenommen; wenn wir angelangt sind, werde ich sie wegwerfen müssen; mitschleppen kann ich sie nicht.
Diese Tage sind beinahe wie Urlaub: keine Sorgen, keine Verantwortung!
Auszug aus dem Brief an die Ehefrau Im Transportzug, 20.6.42
Gestern haben wir ein Stück unserer Fahrt ein Blitzmädel (Landserjargon für Nachrichtenhelferin, weil sie einen Blitz als Abzeichen auf dem Ärmel trug) mitgenommen, die irgendwohin wollte. Vielleicht war's das letzte deutsche Mädel, das wir für lange Zeit gesehen
haben?
Auszug aus dem Brief an die Ehefrau Im Felde (Alekssandropolje b. Artemowsk), 9.7.42
Ich habe alle Vorbereitungen getroffen, die man trifft, bevor man ins Feld geht. Aber ich glaube bestimmt, dass ich wiederkomme. Und wenn ich in Rußland bleiben sollte, dann darfst Du nicht daran zerbrechen. Es wäre nicht in meinem Sinn, wenn Du Dein ganzes Leben vertrauerst
meinetwegen.
Auszug aus dem Brief an die Ehefrau Im Felde, 17.7.42
Der zivilen Seite des Lebens bin ich völlig entwöhnt, Du solltest Dir jetzt schon überlegen, wie Du mich rauhen Krieger wieder zu einem wohlerzogenen Mustergatten erziehen willst! Auszug aus dem Brief an die Ehefrau Im Felde (Woroschilowgrad), 18.7.42
In der Stube neben mir sitzt ein [ukrainisches] Mädchen und weint bitterlich; das erste Mal, dass ich so einen Gefühlsausbruch hier erlebe; die meisten Menschen sind versteint, vereist.
Auszug aus dem Brief an die Ehefrau Im Felde, 19.7.42
Die Russen sind wahre Meister des Rückzuges: Die Stadt [Woroschilowgrad] ist völlig geräumt, nichts für uns irgendwie Brauchbares ist zu finden, alle Läden, alle Speicher leer, die Menschen in den Fabriken abtransportiert. […] Nach Briefen sehne ich mich sehr, sehr; die sind das Band, das uns am meisten mit der Heimat verbindet.
Auszug aus dem Brief an die Ehefrau Im Felde, 22.7.42
Die Bevölkerung hier [die heutige Grenze von der Ukraine nach Russland war überschritten] ist sehr viel anders als in der Gegend, durch die wir bisher zogen. Die Häuser sind dreckiger, ich gehe nicht mehr in ein Quartier, sondern übernachte [aus Angst vor Läusen] draußen. Die Leute sind sehr viel unfreundlicher, die Frauen müssen dazu befohlen werden, unsere Wäsche zu waschen usw.
Auszug aus dem Brief an die Ehefrau Im Felde, 26.7.42
Unsere Verpflegung kommt nicht nach, wir haben den Befehl, uns aus dem Lande zu ernähren. Das ist leicht befohlen – woher etwas nehmen bei der Armut? Damit bei den Requirierungen keine Überschreitungen vorkommen, habe ich das Betreten der Häuser verboten; in jedem Zug ist ein Unteroffizier mit der Beschaffung der Lebensmittel beauftragt, darf die Häuser durchsuchen. […]
Der Krieg macht hart, unmenschlich: wir nehmen Flüchtlingen ihre Pferde ab und lassen sie mit ihren Habseligkeiten auf der Straße liegen. Zu Deiner Beruhigung: diese Pferde sind Militärpferde, die sich die Russen auch irgendwie und irgendwo „organisiert“ haben.
Auszug aus dem Brief an die Ehefrau Im Felde, 11.8.42
Temperatur: 48°C im Schatten. […] Hier im Ort (= Kotelnikowo) liegen zwei rumänische Divisionsstäbe, der ganze Ort wimmelt von Rumänen. In ihren braunen Uniformen sehen sie den russischen Soldaten sehr ähnlich, hoffentlich gibt es keine Verwechslungen.
Auszug aus dem Brief an die Ehefrau Im Felde, 18.-20.8.42
In der Nacht zum 18. August wenig Ruhe, ein neuer Angriff wurde vorbereitet, diesmal kamen uns „Stukas“ [Sturzkampfflugzeug] zu Hilfe. Aber auch dieser Angriff – Angriffsbeginn 5.30 Uhr – blieb liegen.
Erst der vierte Versuch – Beginn 10.20 Uhr – gelingt. Der Kommandeur sagt: „Gehen Sie mit mir vor.“ Ich verliere ihn aber und schließe mich Oblt. Kalmey mit seiner 11. Kompanie an. Nur sprungweise können wir uns vorarbeiten, heftiges Infanteriefeuer schlägt uns aus den Häusern entgegen. Ich selbst bin ziemlich weit vorn, viel weiter, als mir eigentlich zusteht. Mein Melder, den ich mit nach vorn genommen habe, erhält einen Bauchschuß (ist bald darauf gestorben). Das hätte auch mir passieren können. Ich komme zum Ortsrand – überall liegen gefallene Kameraden – wer mag das sein…? Keine Zeit! Die 9. Kompanie und Teile des I. Bataillons sind schon in den Häusern. wir springen von Hausecke zu Hausecke, aus jedem Haus werden russische Soldaten herausgeholt. Vor mir fällt ein M.G.-Schütze beim Überspringen der Straße. Russische 7,62cm Geschütze („Ratsch-Bumm“) schießen noch auf uns, als wir auf 100 Meter heran sind, bis wir die Bedienung Mann für Mann umgelegt haben. Das Dorf brennt, Qualm nimmt die Sicht. Neben mir fährt unsere leichte „Pak“ [Panzer-Abwehr-Kanone] auf und schießt
einen flüchtenden LKW in Brand.
In der Nacht (18./19. August) Gegenangriffe. Stalinorgeln.
Heute (19. August) haben wir etwas Ruhe, aber die Ereignisse der letzten Tage zittern noch in uns nach; unsere Nerven sind noch nicht zur Ruhe gekommen; zuviel Schreckliches haben wir gesehen. Das Dorf sieht wüst aus, übersät mit Ausrüstungsgegenständen. Von den russischen Panzern, die uns schwer zu schaffen machten, haben wir 5 abgeschossen. 9 erbeutete Geschütze stehen im Ort. Mindestens 500 russische Soldaten haben wir aus den Häusern herausgeholt, der Rest ist getürmt. 20 russische Feldküchen stehen noch hier, ein Zeichen, wie stark der Ort besetzt war. Überall liegen gefallene Russen herum, und wir schlafen daneben! Aufgetriebene oder schon geplatzte Pferdekadaver und tote Kühe – Wir sind so abgestumpft gegen all das Entsetzliche, daß uns der Gestank gar nicht mehr stört. Unsere Gefangenen müssen den Ort aufräumen; aber es wird wohl noch ein paar Tage dauern, bis soweit Ordnung ist, daß man nicht mehr über gefallene Russen stolpert.
[…] (20. August). Dies ist jetzt der vierte Tag, den wir ununterbrochen im Kampf liegen; meinen Bart müßtest Du sehen, für einen Kuß würde ich Dir bestimmt zu kratzbürstig sein.
Jetzt muß ich noch fünf schwere Briefe schreiben [an die Angehörigen von Gefallenen].
Auszug aus dem Brief an die Ehefrau Im Felde, 26.8.42
Einen ganzen Berg Post von Dir habe ich bekommen, das Wasser läuft mir im Munde zusammen, wenn Du von den Gemüse- und Salatbergen erzählst, die Du erntest. Eigentlich gibt es bei uns jeden Tag nur Hülsenfrüchte; Gemüse und – was noch wichtiger wäre – Kartoffeln bringt der Nachschub nicht, dafür ist kein Platz. Und hier im Lande wächst nichts, gar nichts. Unsere Feldküchen liegen 12 km weit weg, müssen also jeden Tag 24 km fahren, um uns das Essen zu bringen. Und warum? Weil der nächste Brunnen 12 km weit entfernt ist. […] Und die seelische Belastung: der Infanterist muß damit rechnen, daß es ihn erwischt; von meiner Kompanie ist bald nur noch die Hälfte übrig, und es werden immer weniger. […] Urlaub: Die Wahrscheinlichkeit, ohne krank zu werden und unverwundet wieder nach Haus zurückzukehren, ist für
uns sehr gering.
Auszug aus dem Brief an die Ehefrau Im Felde, 7.9.42
Um Dir mal wieder einen „richtigen“ Brief schreiben zu können, mußte ich erst mal krank werden. Gestern abend hatte ich 39,7, vorgestern 39,5°C Fieber. […] Die seelische Belastung ist aber viel größer als die körperliche. Unsere Kompanie ist arg zusammengeschmolzen, bis heute hatten wir 25 Gefallene und 50 Verwundete. Auch von den Offizieren sind nicht mehr viele da. Und ich bin sehr nervös geworden; ich bin nicht mehr der „harmonische Mensch“, den Du mal kennen gelernt hast, ich bin eckig und kantig, Du wirst Deine Enttäuschung mit mir erleben.
Auszug aus dem Brief an die Ehefrau Im Felde, 25.9.42
Seitdem wir hier [an der Wolga, südlich Stalingrad] in Verteidigung liegen, verläuft ein Tag wie der andere. […]
Ich bin schon seit längerem der einzige Offizier in der Kompanie (wir waren mit 5 Offizieren ausgerückt). Und kein Tag vergeht, an dem nicht ein oder zwei Mann der Kompanie ausfallen. Da kommt mir immer der Gedanke: „Ja, wann bist du denn eigentlich an der Reihe?“ Vielleicht bekomme ich einen Splitter ab, daß es für die Heimat reicht? Findest Du solche Gedanken gotteslästerlich? Ich habe so oft gesehen, wie Kameraden neben mir gefallen sind, da denke ich natürlich auch oft an den Tod. Nur eines möchte ich nicht: In Gefangenschaft fallen. Für solchen Fall bleibt die letzte Kugel übrig.
Auszug aus dem Brief an die Ehefrau Im Felde, 29.9.42
Ich glaube, Deine Gebete werden erhört, unser Herrgott hat seine Hand über mich gehalten. Vor drei Tagen griffen die Russen uns an und setzten vorher einen Segen von Artillerie- und Granatwerfersalven in unsere Stellungen. Ich hatte gerade eine Besprechung in meinem Unterstand,
wollte EKs [„Eiserne Kreuze“] verleihen und ähnliches. Ich hockte in der hintersten Ecke des Unterstandes, vier saßen und hockten vor mir. Da ging ein Granatwerfertreffer direkt in den Eingang meines Unterstandes. Ich bin zugedeckt mit schreienden Verwundeten, deren Blut auf mich floß. Mit Mühe konnte ich mich herausarbeiten, konnte Hilfe herbeiholen. Ein Unteroffizier tot, drei Mann schwer verwundet.
Eine halbe Stunde später: Ich saß in einem Nachbarbunker, wollte rausgehen, einer sagte: „Herr Oberleutnant, warten Sie doch noch etwas, es schießt gerade wieder hierher.“ Aber der Oberleutnant hatte einen dicken Kopf und ging trotzdem raus. Eine Minute später wieder Schreie von Verwundeten, wieder hatte eine Granate vom Bunkereingang aus Splitter in den Bunker gestreut: Alle drei, die im Bunker saßen: Granatsplitterverletzungen. Es waren alles Leute von meinem Kompanietrupp, die tagtäglich mit mir zusammen waren, von denen ich jede einzelne Gewohnheit kannte, die mir so oft von ihren Familien erzählt hatten.
Es waren einmal zwölf, unser Kompanietrupp, als wir von Belgien ausrückten. Jetzt bin ich ganz allein verschont – WOFÜR? Daß mir das alles sehr, sehr nahe gegangen ist, wirst Du verstehen. Es ist alles aufgewühlt in mir, ich brauche Deinen Einfluß, um wieder in Ordnung zu kommen.
Auszug aus dem Brief an die Ehefrau Im Felde, 4.10.42
Eben habe ich mir die Haare schneiden lassen, bin froh, von diesem Wust befreit zu sein. Schönheit spielt keine Rolle; für wen sollen wir denn auch gut aussehen? Bloß waschen täte uns mal nötig; ich bekomme alle 3 Tage einen Kanister Waschwasser, aber unsere Leute haben sich wochenlang nicht gewaschen. Die Sorge vor dem Winterkrieg lastet schwer
auf uns; immer wieder überlegen wir: Wie machen wir das bloß im Winter?
Auszug aus dem Brief an die Ehefrau Im Felde, 12.10.42
Allmählich werde ich zu einem richtigen Frontschwein: Gestern waren es nur zwei, heute sind's schon 20 gewesen, die ich gefangen habe (gemeint sind natürlich Läuse!). Die ersten Wintersachen haben wir empfangen: eine Bauchbinde, ein Paar Fausthandschuhe, einen Kopfschützer. Da kann der Winter kommen.
Auszug aus dem Brief an die Ehefrau Im Felde, 13.10.42
Das Wetter als Gesprächsthema Nr. 1 bei uns ist nicht ein Zeichen mangelnder geistiger Regsamkeit, sondern zeigt, wie wichtig das Wetter für uns, unser Wohlbefinden, unsere Gesundheit, unsere Laune ist.
[…]
In einem der letzten Briefe fragst Du, ob wir für Deutschland oder für den Nationalsozialismus kämpfen. Das ist nun gar nicht leicht, darüber zu schreiben. Eins sind diese beiden Begriffe für mich nicht, es hat ein Deutschland gegeben ohne Nationalsozialismus, und das war auch unser Vaterland, für das unsere Väter gekämpft haben. Und der Nationalsozialismus? Stelle Dir vor, nach einem verlorenen Krieg würde der Bolschewismus zur Macht kommen, die Menschen aus den Konzentrationslagern würden die Macht an sich reißen – da wäre das Leben doch gar nicht mehr lebenswert, besonders für einen, der Offizier gewesen ist, würden keine Lebensmöglichkeiten offen stehen. Du liest es doch in den Zeitungen, was die Gegner mit uns vorhaben, wenn sie vom Sieg träumen. Deutschland muß leben, auch wenn wir sterben müssen. Diese Gewißheit gibt uns die Kraft, jeden Tag dem Tod frei und offen in die Augen zu sehen.
Auszug aus dem Brief an die Ehefrau Im Felde, 19.10.42
Ich bekomme einfach kein Feldküchenessen mehr herunter, aber krank fühle ich mich nicht.
Ich habe in den letzten Tagen weniger Briefe an Dich geschrieben, obwohl ich schon die Zeit gehabt hätte. Aber ich kann einfach nicht. Und da schreibe ich lieber gar keinen als einen Jammerbrief. Ihr in der Heimat habt's schon schwer genug, warum sollen wir Euch auch noch das Herz schwer machen?
Auszug aus dem Brief an die Mutter Im Felde, 26.10.42
Hier ist augenblicklich viel los, alle 10 Minuten renne ich raus und schieße mit meinem Gewehr in die Luft (auf Tiefflieger). Daß ich einen getroffen habe, will ich nicht behaupten. Dauernd donnern Bomben, daß der Unterstand wackelt.
Mit Studienurlaub ist es nichts, es gibt bei uns keinen. Ich hätte aber auch wahrscheinlich keinen Antrag eingereicht. Ich empfinde es beinahe als Fahnenflucht, meine Männer jetzt im Stich zu lassen. Es fällt mir nur sehr schwer, Hanna das zu erklären; sie hat schon Verbindungen aufgenommen, um mir in München ein Zimmer zu besorgen. Da wird sie
schwer enttäuscht sein.
Auszug aus dem Brief an die Ehefrau Im Felde, 5.11.42
Im Angesicht des Todes lernt man viele Menschen von einer anderen Seite kennen. Viele Briefe bekomme ich geschickt von den Verwundeten, aber auch von Angehörigen der Gefallenen. Wirklich erschütternde Briefe. Kein Jammern und Klagen, nur der Wunsch nach einem Bild vom Grab, den ich meist nicht erfüllen kann.
Auszug aus dem Brief an die Mutter Im Felde, 8.11.42
Der Winter hat seinen Einzug gehalten, seit zwei Tagen friert's bei uns heftig [minus 20°C]. Schön ist's natürlich nicht, auf freiem Feld (d.h. in unseren Bunkern) zu überwintern, aber wir sind gut versorgt mit Wintersachen. Wir haben jeder drei Wolldecken, 2 Pullover, 1 Bauchbinde, Fausthandschuhe, Kopfschützer. Und wir haben selber gut vorgesorgt: Auf unseren Bunkern liegt ein Meter Erde, die ganz schön warm hält. Und in den meisten Unterständen ist auch schon ein kleines Öfchen drin, damit sich der Posten aufwärmen kann, wenn er nach einer Stunde völlig durchgefroren in den Unterstand kommt. Und damit sich die Bunkerbesatzung ihr Essen und ihren Kaffee warm machen kann. Also, bedauern braucht Ihr uns nicht, wir schaffen's schon.
Verpflegung ist gut, wir bekommen öfter Schokolade oder Bonbons; knapp sind nur Kartoffeln.
Auszug aus dem Brief an die Ehefrau Im Felde, 10.11.42
Heute muß ich auf meine allerletzte Luftpostmarken-Reserve zurückgreifen, ich habe eine Nachricht, die ich Euch gleich mitteilen will: Gestern abend hat mir der Kommandeur das EK I verliehen. Das ist doch für Dich eine sehr viel größere Freude, als wenn ich selber kommen würde!!! Oder…? –
Auszug aus dem Brief an die Ehefrau Im Felde, 13.11.42
Der Russe hat uns jetzt bald zwei Wochen Ruhe gelassen, in unserem Abschnitt scheint er die Nase voll zu haben. Jede Nacht kommen Überläufer zu uns rüber; das ist doch wohl ein Zeichen, daß es denen drüben nicht allzu gut geht. Von unseren Soldaten läuft jedenfalls keiner über. Aber den Schluß, daß die russische Armee am Zerbröckeln ist, den ziehen wir auch nicht.
Gerade kommen die Überläufer von gestern wieder; wir machen mit denen eine Rufaktion, d.h. wir stellen sie in unsere vordersten Gräben und lassen sie rufen: „Hier ist Wassilij Feodorowitsch. Kommt rüber, hier seid Ihr in Sicherheit. Hier gibt es Brot und Zigaretten!“ Das hat meistens Erfolg. [Erinnerung 1993: „Wir hatten keine Ahnung, was diese Kriegsgefangenen tatsächlich riefen, wir hatten niemanden, der russisch verstand.“]
Und Du? Wie geht es Dir? Wieviel hast Du schon von der Wohnungseinrichtung zusammen? Kann ich schon auf Urlaub kommen? Ich glaube, das Zivilleben ist mir so fern, daß ich mich gar nicht mehr richtig hineinfinden kann. Ich glaube, ich warte bis zum nächsten Winter!! Wieviel Geld haben wir eigentlich auf unserem Konto? Kürzlich habe ich Dir 303,80 M geschickt…
Zwei persönliche Erinnerungen von 1993 zum Thema „Fahnenflucht“:
1. Ich besuchte die B-Stelle [Beobachtungsstelle] der Artillerie in unserem Abschnitt, saß in deren Unterstand und unterhielt mich mit dem VB [vorgeschobener Beobachter]; der Funker hatte sein Gerät eingeschaltet. Plötzlich hörte ich aus dem Funkgerät eine Frauenstimme:
– „Deutscher Soldat, warum kämpfst Du immer noch für die faschistischen Eroberer?“
– „Halt die Schnauze, alte Hure!“ war die Antwort des Funkers.
– „Deutscher Soldat, ist das die vielgerühmte deutsche Höflichkeit?“
Ich habe mir dann überlegt: was würde der Funker wohl geantwortet haben, wenn er allein gewesen wäre….?
2. „Für alle Fälle“ hatte ich einen Propusk in der Tasche, als Flugblatt bei uns abgeworfen. Solch einen Propusk bei sich zu haben, war streng verboten. Ich war wohl kein Held…
[Auf dem Papier stand in russischer und deutscher Sprache]:
DIESES FLUGBLATT GILT ALS PASSIERSCHEIN BEI DER GEFANGENGABE PASSIERSCHEIN Jeder deutsche Soldat ist berechtigt, mit diesem Passierschein die Front zu überschreiten und sich den Russen gefangenzugeben. Jeder Angehörige der Roten Armee und jeder Sowjetbürger ist verpflichtet, ihn in den nächstgelegenen Stab der Roten Armee zu führen. Das Kommando der Roten Armee garantiert dem Kriegsgefangenen das Leben, gute Behandlung und die Heimkehr nach dem Kriege. |
Auszug aus dem Brief an die Ehefrau Im Felde, 19.11.42
[Jetzt kann ich Dir] von meinem Geburtstag [16.11.] erzählen, der so nett verlaufen ist, wie es nur irgend möglich ist unter diesen Verhältnissen. Morgens gratulierte mir mein Kompanietrupp und der Batl.Stab sehr herzlich, die Kompanieführer riefen an, Hptm. Röhm sprach mit fernmündlich seine Glückwünsche aus und ließ mir eine Schachtel „Attika“ überbringen. Abends brachte mir unser Hauptfeldwebel eine Flasche Feuerwasser, sehr nett zurecht gemacht; und Pfannkuchen, die mir die Köche gebacken hatten, mit der Aufschrift auf dem Kasten: „Die Liebe geht durch den Magen.“ Ich schicke Dir die Umhüllung der Flasche, bewahre sie auf als Beweis für die Anhänglichkeit meiner Kompanie. Abends haben wir dann in gemütlicher Runde die Flasche leer gemacht.
Meine Briefe sind in den letzten Wochen so wenig zärtlich; versteh' mich bitte. Ich könnte doch all diese schweren Wochen und Monate nicht ertragen, wenn ich mich nicht verhärten würde; wenn ich nicht einen schweren eisernen Panzer um mein Herz gelegt hätte, der jeden Tag härter wird. Mir ist oft so zu Mute, daß ich aufheulen möchte; ich kann's aber nicht. Erweichen, zum Schmelzen bringen, kannst diesen Panzer nur Du. Jeden Tag 23 Ausfälle – da können wir uns ausrechnen, wann wir dran sind. Da hilft nur der derbe Soldatenhumor drüber weg, und der ist in unserer Lage Galgenhumor.
Auszug aus dem Brief an die Ehefrau Im Felde, 27.11.42
[Zwischen dem 19. und 22. November 1942 gelang es der sowjetischen „Roten Armee“, mit einem Umfassungsangriff die deutschen Verbände bei Stalingrad einzukesseln.] Der Plan, aus dem „Kessel“ auszubrechen, ist fallengelassen; ich bin froh darüber, ich glaube nicht, daß ich ohne ein Dach über dem Kopf die russische Winterkälte aushalten würde.
Auszug aus dem Tagebuch vom 28.11.42
Die Rumänen bringen sehr viel Aufregung in unsere Stellungen, dauernd laufen sie aufrecht mit ihren hohen Pelzmützen herum, so daß der Russe glaubte, er müsse eine größere Bereitstellung zerschlagen. Wir haben so viel Feuer bekommen, wie sonst selten: Morgen wird im russischen Wehrmachtsbericht stehen: „Feindliche Bereitstellungen südlich Stalingrad zerschlagen.“
Auszug aus dem Tagebuch vom 30.11.42
Wir können uns an diese [rumänischen Züchtigungs-]Methoden nicht gewöhnen; aber wenn wir die Rumänen nur anbrüllen auf preußische Kommißweise, dann glauben sie, wir meinen es nicht ernst, weil wir unseren Befehlen nicht mindestens einen Fußtritt in der Hintern folgen lassen.
Auszug aus dem Brief an die Ehefrau Im Felde, 2.12.42
Seit dem 20. Nov. habe ich nicht mehr schreiben können, Feldpostsperre! Nun ist ein Brief freigegeben, der wohl per Luft hier rausgeht. Danach wird wieder eine lange Pause kommen, aber Du weißt dann doch, daß es mir gut geht. […] Die Verpflegung ist natürlich auch rationiert auf die Hälfte – sehr schmerzlich, aber es läßt sich aushalten. […] Im Radio höre ich Aufrufe: „Zimmer für Studenten bereit zu stellen.“ Schön wär's gewesen. So kann ich in den langen Nächten wenigstens davon träumen, wie's gewesen wäre, wenn… Und wie's sein wird! Die Hoffnung verlieren wir nie!
Auszug aus einem Brief der Mutter an ihre Schwiegertochter, der Ehefrau:
Liebe Hanna, Bremen, 1. [Weihnachts-]Feiertag 1942
Ich kämpfe […] immer mit mir, ob ich Dir meine Vermutung von Hermann schreiben soll oder ob ich mich damit der „Verbreitung von Gerüchten“ schuldig mache. Darum wollte ich warten, bis ich Genaueres weiß; nun sehe ich aber, wie sehr Du Dich quälst, weil keine Post kommt. Ich will Dir also schreiben, was ich weiß. Aber bitte, vernichte den Brief gleich nach dem Lesen. –
Also: Weißt Du noch, wie vor 1½ Jahren bei uns immer wieder ein bolschewistischer Sender zwischen den Deutschlandfunk funkte und ganz dolle Nachrichten verbreitete, und wir konnten die Welle nicht sofort ausschalten? Ähnliches hatte [mein Mann] in seinem Revaler Sender erlebt: Ein Moskauer Sender funkte dauernd dazwischen: „80.000 Mann sind südlich Stalingrad eingeschlossen.“ [15] Diesen Satz wiederholte er dauernd… – Nun habe ich kürzlich dasselbe über einen anderen Weg erfahren, den ich Dir aber nicht angeben kann.
Hanna, ich glaube, wir müssen uns damit abfinden, daß es wahr ist: Hermann ist mit einem großen Teil eingeschlossen. Es ist furchtbar zu denken, daß dieses Schicksal ihn gerade vor Weihnachten ereilt hat. Ohne Post vielleicht! Und ob er mit allem anderen versorgt wird, wer weiß es? Schreibe ihm vorsichtig, Hanna; oft werden die abgeworfenen Sachen abgetrieben vom Wind und geraten in falsche Hände.
Wir wollen gläubig bleiben, wir zwei. Es ist ja noch nichts Schlimmes. Wir müssen ihm weiter schreiben, ohne im Glauben zu ermatten, auch wenn wir nichts von ihm hören. Wir können sein Los nicht anders erleichtern. Vorläufig ist ja auch noch keine Gewißheit da!
So, nun bin ich es vom Herzen los. Vielleicht verschwindet Dein trauriges Gesicht jetzt [aus] meinen Träumen…
Auszug aus dem Brief an die Ehefrau Rostow, 24.12.42
Denk Dir, ich kann Dir jetzt einen Brief schreiben; einen Weihnachtsbrief, der Dir und Mutti vielleicht Freude bereiten wird, eine wirkliche Weihnachtsfreude: Ich kann den Heiligen Abend in einem weiß bezogenen Bett feiern, ungestört durch russische Granaten oder alarmierende Telephonanrufe. Ich bin am 19. Dez. verwundet worden, und zwar habe ich Granatsplitter in beiden Füßen und am linken Unterschenkel… Die beiden kleinen Zehen haben sie mir abgenommen, beim rechten Fuß ist der große Zeh etwas lädiert.
25. Dez.: Für mich ist's natürlich nicht nur Freude! Arg schwer ist's mir geworden, mich im Augenblick höchster Gefahr von dem Haufen zu trennen, mit dem zusammen ich so viel Schönes und Schweres erlebt habe. […]
Gestern abend hat sich jeder die größte Mühe gegeben, uns zu zeigen, daß Heiligabend war. Und da ist der erste Reifen von meinem Herzen geschwunden (Du kennst doch das Märchen vom Froschkönig?). Als uns die Schwestern und die Sanitäter vom Flur her einige Weihnachtslieder sangen, da sind mir die blanken Tränen die Backen heruntergelaufen.
Wann ich hier fort komme, läßt sich noch nicht übersehen. Erst muß mal mein Fieber besser werden.
Mit einer Ju52 war der Verwundete am 23. Dezember 1942 aus dem „Kessel“ zum Feldflughafen Morosowskaja geflogen worden. Um 21 Uhr kam er im Kriegslazarett Rostow am Don an. Der Flug der Transportgruppe – etwa 50 Maschinen des Typs Ju52 – war der letzte von diesem Flugplatz aus, da er aufgrund weiterer Angriffe von seiten der Roten Armee verloren ging.
Durch seine Verwundung frontunfähig geworden, bildete Hermann Ginzel in Dänemark Rekruten aus. Gegen Ende März 1945 wurde er aus Dänemark herausgezogen und dann zur Verteidigung der „Festung Harz“, die als „Harzkessel“ zum letzten Bollwerk des Großdeutschen Reiches werden sollte, eingesetzt.
Der „Russlandfeldzug“ war bereits lange vor der wegweisenden und symbolischen Niederlage bei Stalingrad als „Blitzkrieg“ gescheitert und markierte damit auch strategisch einen Wendepunkt im „Kriegsglück“. Die Sowjetunion besaß ihr größtes Potential in ihrer schier unerschöpflichen Reserve an Material und Menschen, in der Weite ihres Landes – und nicht zuletzt in der Leichtsinnigkeit des deutschen Angreifers. [16]
Die Soldaten an der Front hingegen waren bereits wenige Wochen nach dem Überfall auf die UdSSR im Juni 1941 von den Realitäten eingeholt und von den Dimensionen ihrer „Aufgabe“ beeindruckt. Noch strahlten sie – im zügigen Vormarsch Richtung Moskau – zwar Siegesgewissheit aus, doch ihren Briefen ist der Respekt vor dieser (selbst-)mörderischen Herausforderung deutlich anzumerken.
Angestellte des Landkreises Osterholz, die zur Wehrmacht einberufen worden waren, meldeten sich zwischen September und November 1941 brieflich bei ihrem Landrat Dr. Becker sowie ihren Kollegen in der Kreisverwaltung. Bei ihren Schreiben handelt es sich in der Regel um Antwort- und Dankbriefe an ihren Vorgesetzten, nachdem der Landrat seinen Angestellten Ende August 1941 jeweils einen Brief und ein Buch in ihre „Stellungen“ zugesandt hatte. Einige ausgewählte Korrespondenzen geben im folgenden einen Eindruck von der Mentalität, den Problemen und den „bevorstehenden Aufgaben“. Stärker noch als aus privater Post an Familienmitglieder ist diesen Briefen das Bedürfnis der Schreiber zu entnehmen, ihre „Aufgabe“ und ihr Handeln im Krieg zu begründen, sich der Unterstützung und ideologischen Rechtfertigung ihres Waffenganges durch eine höhere Instanz – hier ihres Dienstherrn – zu versichern. Diese Feldpost besitzt Bekenntnischarakter, und die martialischen wie die zurückhaltenderen, betont pflichtbewussten Äußerungen der Soldaten dienten somit neben der Legitimierung ihres Tuns auch der Selbstvergewisserung.
„Intelligenztruppe“ – W.G., Linz, den 4. September 1941:
„Nun muß ich mich von Ihnen und den Kameraden der Behörde auf diesem Wege verabschieden, […] Aber vielleicht sind Sie selbst längst wieder Soldat und mit draußen oder aber als Verwaltungsbeamter für den Aufbau im Osten eingesetzt? Aufgaben erwachsen dort ja in einer Fülle, daß es uns bange werden könnte, wie sie gebändigt werden sollen – derweilen wir hier Rekruten dressieren, so schauderhaft schlecht, daß man am deutschen Volke zweifeln kann (z.Zt. habe ich über 10 Prozent absolute Analphabeten, von sonstigen körperlichen und geistigen Mängeln ganz abgesehen: und das ist nun eine sogenannte ,Intelligenztruppe‘! –“ [17]
„Petrus ist ein ausgesprochener Bolschewik“ – Gefreiter H.B., Rußland, den 7. September 1941:
„Die Zeit, die Verhältnisse und nicht zuletzt die Papierknappheit zwingen mich, statt zur Feder zur Schreibmaschine zu greifen, um allen Freunden und Bekannten in der lieben, ach so fernen Heimat ein Lebenszeichen zu geben. […]
Die Elite des deutschen Volkes steht jetzt im Kampf mit dem Bolschewismus. Wir befinden uns selbstverständlich dabei. […]
Ein Blick hinein in die Ukraine war uns gestattet. Bauernland. Ein gut gewachsener, kräftiger Menschenschlag, fröhlich, durchweg in der kleidsamen Tracht dieses Landes. Viel Barockkirchen und Gebäude noch aus österreichischer Zeit, schlechte aber noch befahrbare Straßen aus älterer Zeit. […] Mit Stolz konnten wir sehen, wie unendlich viel in den 2 Jahren deutscher Besetzung in diesem Land geschaffen worden ist. Überall sind feste, größtenteils geteerte Straßen angelegt. Die Häuser in den Straßen sind sauber abgeputzt. Die Felder auf dem Lande machen einen vorzüglichen Eindruck. Es steht eine gute Ernte. Verkehrspolizei und Gendarmerie überall. Ordnung und Sauberkeit beginnen dort einzuziehen, wo bisher nur Schmutz und Schlendrian herrschten. […]
Dann ging es hinein in die unendliche Weite des russischen Landes. Schon am Unterschied der Felder und am Straßenzustand ist die Grenze zu erkennen. […]
Die Landbevölkerung ist überwiegend in Kolchosen zusammengefaßt. Die Gemeinde hat ihren Kolchosenführer. Alles Land gehört der Gemeinschaft. Der Führer bestimmt den Anbau, teilt die Arbeit ein, bestimmt das Arbeitsmaß. Der Staat liefert die Traktoren. Man kann Rußland ruhig das Traktorenland nennen. Zunächst imponieren einem die gewaltigen Anbauflächen und die Zahl der in gleichmäßiger Arbeit angesetzten Kräfte. Wer aber tiefer blickt, sieht, daß das persönliche Streben erstorben ist, wie die Menschen auf die primitivste Kulistufe herabgesunken sind. […]
Es gilt zwar nicht als besonders intelligent, über das Wetter zu sprechen. Für uns Soldaten hat es aber eine ganz besondere Bedeutung. Wenn es in Deutschland regnet, dann ist man nicht eben sehr erbaut davon, aber es stört einen auch nicht sehr. Selbst wenn es tagelang regnet. Darum hört bei uns noch lange nicht jeglicher Verkehr auf. Hier ist das anders. Petrus ist ein ausgesprochener Bolschewik. Er läßt es seit Tagen und Wochen meistens regnen. […] Da es keine festen Wege gibt, ist im Nu alles in eine Lehm- und Schlammbrühe verwandelt. […] Eine entsetzliche Quälerei beginnt. Wir sehen meistens aus wie die Schlammteufel, die Wagen sind zur Unkenntlichkeit verkrustet. […] Aus Rußland wird nie etwas werden, wenn die Wegeverhältnisse nicht anders werden. Sie sind ein Hindernis für jeden Fortschritt und jede Kultur. […]
Da wir einen russischen Dolmetscher haben, können wir von der Bevölkerung erfahren, wie es vorher gewesen ist. Zusammenfassend: Urzuständlich. Nur daß die Urmenschen wahrscheinlich sauberer gewesen sind. […]
Wir sind nun gespannt, wie das weiter im Osten wird. Und dann der russische Winter! Wir träumen jetzt oft vom Ägäischen Meer, von Palmen, von Athen. Und dann friert es einen, wenn man an 30 und mehr Grad Kälte denkt.
Es gibt auch positive Seiten. Allerdings nur wenige. [Hühner zur Mahlzeit; russische Sauna] […]
Zu rühmen ist die Kinderliebe der Russen. Kinder sind zahlreich da, dreckig und zerlumpt, aber geliebt werden sie. Und dann fällt es einem auf, daß fast jedes Fenster seinen Blumentopf hat. Zwar meist nur eine alte Konservendose mit etwas Grünem drin, aber es ist ein Blumentopf. […]
Mir geht es gut. Ich bin gesund, mager und vergnügt. Was soll man auch machen. Hauptsache ist, daß der Krieg gewonnen wird und zu Ende geht.
Mit den herzlichsten Grüßen von irgendwo aus Rußland.
Heil Hitler! H.B.“ [18]
„Pflichterfüllung für die Idee“ – Schütze F.A., Verden, den 7. September 1941:
„Für die Verwaltung wird es nicht gut sein, noch weitere Arbeitskräfte abzugeben. Wenn aber höheren Orts Männer für Ostraumgebiete angefordert werden, dann muß auch der Kreis dieses Opfer bringen. […]
Die Nachricht vom Ableben des Herrn Schnibben erreichte mich Anfang Juli in Munster-Lager auf dem Truppenübungsplatz. Ich war sehr überrascht und hatte nicht damit gerechnet, daß es mit Herrn Schnibben so schnell zu Ende sein würde. Ich habe 8 Jahre mit Herrn Schn. gearbeitet. Da ich das gern getan habe, wurde mir die Trennung von ihm um so schmerzlicher. Da aber das Schicksal stärker war, müssen wir uns in das Unabänderliche fügen. […]
Die Regelung der wirtschaftlichen Verhältnisse der Einberufenen und ihrer Familienangehörigen, die Sicherung eines reibungslosen Ablaufes des Geschäftslebens auch unter den Einwirkungen des Krieges, die Beibehaltung und wenn möglich sogar weitere Verbesserung sozialpolitischer Errungenschaften des Staates, das alles sind Dinge, die das Reich in Kraft gesetzt hat, um den Soldaten und seine Angehörigen vor Wirtschaftsschäden zu bewahren, die sich aus der Einberufung, aus dem Aufhören der beruflichen Tätigkeit usw. ergeben können. Tägliche Beispiele beweisen mir, daß der nationalsozialistische Staat ein umfassendes sozialrechtliches Werk schuf, um den Gleichklang von Front und Heimat unter allen Umständen zu sichern. […]
Wenn einmal die Geschichte des großen Krieges geschrieben wird, dann kann man niemals die deutsche Frau vergessen, die in selbstverständlichem inneren Gehorsam besonders als Bäuerin und Arbeiterin in der Ernährungssicherung und in der Rüstungsindustrie steht und gestanden hat.
Aber noch sind nicht alle Frauen und Mädchen erfaßt. Manche stehen abseits aus einem falschen, veralteten Stolz heraus oder aus dem Bewußtsein, ,es nicht mehr nötig zu haben‘.
Es ist sogar häufig vorgekommen, daß Frauen, die sonst einer geregelten Arbeit nachgingen, auf Anraten ihrer im Felde stehenden Männer die Arbeit niederlegten. Diese waren der Ansicht, wenn sie in der Truppe kämpfen, muß ihre Frau Familienunterstützung erhalten und hat es deshalb nicht nötig, zu arbeiten. […]
Als ich am 3.2. d.Js. zum Wehrdienst eingezogen wurde und den grauen Rock angezogen hatte, ließ ich alles hinter mir, was mich je hätte trennen können. Es galt für mich nur noch ein oberstes Gesetz: das Gesetz deutschen Soldatentums, das Pflichterfüllung für die Idee heißt. […]
Meine Rekrutenzeit von 12 Wochen hatte ich gut überstanden. Gewiß waren Stunden dabei, die alles von mir verlangten, die Ausdauer und vollen Einsatz von mir forderten. Ich war mit 9 aus dem Arbeitsdienst entlassenen 19jährigen Kameraden in einem Gewehr. Gerade diese Kameraden, die mir doch schon vieles in der Ausbildung voraus hatten, haben mich mitgerissen und mich die Rekrutenzeit überwinden lassen. […]
Mein Bericht könnte bei Ihnen, werter Herr Landrat, den Schluß zulassen, daß es sich um einen Aufsatz handelt. Das soll er nicht sein. Ich empfand und empfinde diese Erlebnisse physisch und glaube, daß sie mich verstehen.“ [19]
„Niederringung des Bolschewismus und des Weltjudentums“ – Obervormann H.W., Schrimm (Warthegau), den 15. September 1941:
„Sie sind ja nun nach 11monatigem Dienst mit der Waffe wieder entlassen und dürfen wieder zum Wohle des Kreises arbeiten. […] Hier im Osten fehlt es aber auch noch sehr an Deutschen Arbeitskräften. Bei den Behörden und sonstigen Dienststellen müssen immer noch hier und da polnische Aushilfskräfte herangezogen werden. […]
Im Kreise Osterholz ist ja erfreulicher Weise ein Heimatverein ins Leben gerufen worden, ich glaube, daß dieses schon lange angestrebt wurde und von der Bevölkerung sehr begrüßt wird. Durch diese Einrichtung werden bestimmt, außer der Lösung kultureller Fragen, auch die Überlieferungen, z.B. Sitten und Bräuche unserer Vorfahren, gepflegt und erhalten.
Ich bin wirklich sehr erstaunt, daß trotz des Krieges der Ausbau einer Straße in Angriff genommen ist. Das ist doch ein schöner Beweis, daß neben den umfangreichen Arbeiten, die der Krieg mit sich bringt, auch die wirtschaftlichen Fragen im Kreise gelöst werden.
Ja, hier im Warthegau gibt es wahrhaftig noch unheimlich viel zu tun. Alles, was hier jetzt landwirtschaftliche Betriebe sind, sind meistens noch im wahrsten Sinne des Wortes ,polnische Wirtschaften‘. Aber daß der Warthegau einmal die Kornkammer Deutschlands werden soll, daß darf man fest hoffen. […]
Ich bin ja leider noch in der ,Etappe‘ sozusagen, denn die meisten unserer Kameraden sind schon lange in Rußland im Fronteinsatz, wo schon mancher Kamerad seine Treue mit dem Tode besiegelt hat. Ich habe nur den einen Wunsch, auch bald im grauen Rock meinem Vaterlande dienen zu dürfen und zur Erringung des Endsieges mithelfen zu dürfen, wie schon so viele Kameraden meines Alters. Aber die Aufgabe, die wir hier zu erfüllen haben, muß auch erfüllt werden.
Ich hoffe, daß Sie, geehrter Herr Landrat, und alle meine alten Arbeitskameraden immer noch bei bester Gesundheit sind, und daß wir uns nach der Niederringung des Bolschewismus und des Weltjudentums alle einmal bei bester Gesundheit wiedersehen werden.[…]
Heil Hitler! Ihr H.W.“ [20]
„Frieden, dieses kostbarste aller Güter“ – F.A., 14. November 1941:
„[…] und doch kreist all unser Sinnen nur um eins: alles, aber alles einsetzen in diesem Jahr 1942, daß wir, wenn wieder den grünen Tannenbaum der Lichterglanz verklärt, ihn haben, den Frieden, dieses kostbarste aller Güter, diesen langen und dauerhaften, zutiefst ersehnten Frieden! […] Unausdenkbar, wenn es einst dem Führer vergönnt sein wird, all seine ungeheure Schaffenskraft, sein einmaliges Genie auf das Riesenwerk des Friedensaufbaues richten zu können.“ [21]
Feldpost ist eine Gattung der Schriftkultur, bei der es einige Bedingungen ihrer Entstehung zu beachten gilt. [22] Aus der Erfahrung des Ersten Weltkriegs kannte man die Bedeutung des Briefkontaktes zur Heimat. Daher unterstützte die Wehrmacht seit Kriegsbeginn 1939 den möglichst reibungslosen und weitgehend kostenfreien Postverkehr zwischen Front und Heimat. Zur Bewältigung des Brief und Paketaustausches wurden annähernd 400 Feldpostämter in den besetzten Gebieten eingerichtet. Stichprobenweise und – zur Warnung – offen [23] wurde die Feldpost zur Abwehr von Spionage und „Wehrkraftzersetzung“ kontrolliert und zensiert – ein Verfahren, daß die Freimütigkeit der brieflichen Mitteilungen einschränkte, setzten doch die meisten Briefeschreiber aus Vorsicht die „Schere im Kopf“ an. Doch allein der Umfang der Feldpost, man schätzt 40 Milliarden beförderte Sendungen, hätte eine systematische Kontrolle niemals gestattet. [24]
Neben dem Einblick, den das Regime durch die Kontrolle der Korrespondenzen von der Stimmung der Truppe erhielt, besaß Feldpost zudem eine volkserzieherische Komponente. Das nicht immer unkomplizierte Verhältnis zwischen der zu schützenden Heimat und der gefahrvollen Front sollte beispielsweise durch gezielte Schreibaktionen von BDM-Backfischen aufgebessert werden, da es schließlich üblicherweise zur „Pflicht deutscher Frauen“ gehörte, die „Vaterlandsverteidiger brieflich bei Laune zu halten.“ [25] Auch Landrat Dr. Becker schrieb im Namen seiner Osterholzer Kreisverwaltung mehrfach an seine „lieben Arbeitskameraden“; so schickte er z.B. ein Päckchen zum Weihnachtsfest 1941, in der Absicht, das „bisherige gute Einvernehmen zwischen Front und Heimat noch mehr zu festigen“ [26] und möglicher Motivationsschwäche und Kriegsmüdigkeit unter den Soldaten entgegenzusteuern.
Das Gros der Feldpost bildete aber der rein private Briefwechsel zwischen Ehepartnern. Da das Durchschnittsalter der kämpfenden Truppe bei etwa Mitte 20 lag, waren auch viele Ehen und Familien der Soldaten noch recht jung. Die Hochzeiten lagen nicht lang zurück, in den dreißiger Jahren zumeist, viele Paare hatten erst nach Ausbruch des Krieges geheiratet. [27] Das Eheleben, das manche Eheleute kaum in der alltäglichen Praxis hatten ausprobieren können, spielte sich überwiegend schriftlich ab – die Ehen waren vielmehr Brieffreundschaften denn ,normale‘ Beziehungen: „Ich weiß schon nicht mehr, wie ein Kuß von Dir schmeckt...“. [28] – Die Feldpost liefert aus diesen Gründen vor allem Quellen, die einen nicht alltäglichen Ehealltag dokumentieren; Alltag insofern, als sich die Paare wohl tatsächlich täglich schrieben, manchmal auch mehrfach am Tag. Die Briefe handeln von Sehnsüchten, gemeinsamen Zukunftsträumen, Hoffnungen und Ängsten. Sie fechten private Probleme aus, die häufig nur durch die Ausnahmesituation der Trennung entstanden sind und die teils mit großer Nachsicht für die gegenseitige Situation zu lösen gesucht wurden, die teils aber auch zu einem privaten „Kleinkrieg“ jenseits des großen Krieges ausufern konnten. Die Ursache für beide Verhaltensweisen, für die verständnisvolle wie für die verständnislose, lag auch in der Natur des Briefwechsels. Denn trotz des intensiven Briefkontaktes konnten (und wollten) die Schreiber ihrem Ehepartner nur Ausschnitte aus der Wirklichkeit in der Heimat und an der Front liefern. Zwar findet sich in den meisten Briefen eine Fülle von detaillierten Schilderungen, doch meist betreffen diese Darstellungen bereits bewältigte bzw. bewältigbar erscheinende Probleme und Krisen, wie z.B. Nachbarschaftsstreitigkeiten, Wehwehchen oder Nachschubprobleme. Trotz der sehr ausführlichen, für Außenstehende oft langweilig anmutenden Beschreibungen des jeweiligen Alltags [29] blieben daher auf beiden Seiten der Schreibenden Informationslücken, die Argwohn, Mißtrauen und Eifersucht wecken konnten: Der Satz eines Frontsoldaten an seine Frau „Du darfst nicht glauben, daß ich Dir etwas verheimlichen würde, was Du wissen mußt“ demonstriert sehr typisch die Doppelbödigkeit der partnerschaftlichen Informationspolitik. [30] Die sehr unterschiedlichen Erfahrungen, aber insbesondere die spezifischen Erlebnisse, Aktions- und auch Freiräume der Soldaten hatten Rückwirkungen auf die gegenseitigen Erwartungen, auf das Eheleben insgesamt wie auf die Stellung der Ehepartner innerhalb der Beziehung. – Überlebten beide Partner den Krieg und hielt die Ehe den Jahren der Trennung in Krieg und Gefangenschaft stand, so hatten die Eheleute bei aller Wiedersehensfreude oftmals eine beschwerliche „Vergangenheitsbewältigung“ in ihrer Beziehung zu leisten.
Die oben angeführten Briefe helfen, das Bild von der uniformen Wehrmacht zu differenzieren. Offensichtlich verbargen sich in den gleichmacherischen „grauen Röcken“ der Armee doch Individuen, die zwar einerseits gewisse Stereotypen – z.B. das des „Herrenmenschen“ – unreflektiert weitertrugen, die aber andererseits ihre Eindrücke durchaus unterschiedlich wahrnahmen und beschrieben. Trotz allen ungebrochenen Selbstverständnisses, vor Moskau seine Heimat zu verteidigen und die deutsche Kultur, an der die Welt genesen werde, zu exportieren, entdeckte der Einzelne den Menschen hinter dem Feindbild. Hielt ihn das in der Regel auch nicht davon ab, der problematischen Auffassung von Pflicht und Gehorsam – emotional geformt durch Eid, Kameradschaft und Selbsterhaltungstrieb – nachzukommen, so beherrschte ihn die tiefe Sehnsucht nach einem dauerhaften Frieden. [31]
Die in Uniform gesteckten Zivilisten waren – sofern sie den Waffengang überlebten – nach der Rückkehr aus dem Krieg gebrochene, häufig psychisch kranke Menschen. Der ständigen Todesangst konnten die Frontsoldaten nur mit Zynismus und Fatalismus begegnen. Gefühlskälte und hautnahe Erlebnisse kämpften wie zwei Seelen in einer Brust. Handeln und Vernunft waren kaum auf einen Nenner zu bringen. Die sich breitmachende, wenn auch mitunter nicht eingestandene Erkenntnis, Teil eines unermeßlichen Verbrechens gewesen zu sein, führte nach dem Kriege zu den unterschiedlichsten Verhaltensweisen bei den Soldaten, die von Abwehr- und Trotzreaktionen bis zu Selbstzweifeln, von glorifizierender Landsermentalität bis zum konsequenten Pazifismus, vom Nihilismus bis zu tiefer Religiosität reichten.
Anmerkungen:E-mail an Jens Murken